Interview: Lars Oliver Stapler
Fotos: Robertino Nikolic

Die Pandemie veränderte die Art zu arbeiten radikal. Innerhalb kürzester Zeit tauschten Millionen von Menschen den Arbeitsplatz im Büro mit dem Ess- oder Küchentisch daheim. Selbst Banken, deren Geschäftsmodell auf Vertraulichkeit und Sicherheit basiert, schickten ihre Mitarbeitenden mit dem Laptop nach Hause. Und dort sind viele erst einmal geblieben und haben sich mit der neuen oftmals komfortableren aber auch herausfordernden Realität arrangiert. Eine Realität, mit der sich unvermittelt auch Büromöbelhersteller auseinandersetzen mussten. Früher Trend- und Themensetter der Arbeitswelt, waren sie plötzlich Getriebene einer unvorhergesehenen Entwicklung, die in vielen Bereichen wie ein Brandbeschleuniger wirkte und bis heute nachwirkt. Um das Thema umfassend zu betrachten, traf StockWerk Raphael Gielgen, Vitras Trendscout Future of Work, auf dem Vitra Campus in Weil am Rhein zum Ausblick auf die Arbeitswelten von morgen.

TURNHALLEN DES GEISTES



Elon Musk, Multimilliardär und Eigentümer von SpaceX, Tesla und Twitter meinte neulich zum Thema Homeoffice: „Sollen die doch woanders so tun als würden sie arbeiten, aber nicht in meinem Unternehmen.“ Sind nach zwei Jahren Pandemie und dem Trend zum Homeoffice die großen Tec-Unternehmen aus dem Silicon Valley wieder dabei, ihre Mitarbeitenden zurück in die Büros zu holen?
Raphael Gielgen (RG): Diese oder vergleichbare Aussagen aus dem Silicon Valley sind für mich nur eine Impulsreaktion, die einer bestimmten Situation geschuldet sind. Ich glaube nicht, dass das Bestand hat. So wie sich Arbeit in Zeiten des digitalen Wandels organisiert hat, mit Mobile oder Cloud First, so wird sich Arbeit jetzt im Kontext von „Remote First“ organisieren. Das bedeutet nicht, dass das Büro verschwindet. Es bedeutet aber, dass es für Firmen erst einmal egal sein wird, von wo aus man arbeitet. „Remote First“ wird der Imperativ einer neuen Epoche der Arbeit und ich wage jetzt mal eine Prognose: Wir haben Stand heute 1,7 Millionen Arbeitsplätze, die nicht qualifiziert besetzt werden können. Zukünftig wird es so sein, dass ein Unternehmen in Hamburg einen Mitarbeiter nicht in Hamburg sucht und findet, sondern irgendwo. Das wird die nächste Stufe sein, die dann auch wieder das Ökosystem einer physischen Arbeit ausweiten wird. Und die Geschichte kann man jetzt noch weiterdenken. Es mag sein, dass wir jetzt nochmal zwei Jahre darüber diskutieren, aber wenn man zurückblickt, hat sich in der Pandemie die Wissensarbeit von der physischen Verortung gelöst. Wir haben über Nacht 85 Prozent aller Transaktionen von zu Hause aus erledigen können. Und das hat funktioniert. Und wir, die wir das miterlebt haben, hatten plötzlich ein Mehr an Flexibilität und Freiheit gespürt. Wir waren seit langem wieder der Souverän unserer Zeit. Und das lässt sich keiner mehr nehmen.

Holger Meyer (HM): Wir erleben aber gerade auch eine freiwillige Rückkehr ins Büro. Ich glaube, dem liegen der Wunsch nach Austausch, Gemeinschaft und das Vermissen echter sozialer Kontakte zugrunde. Das ist vielleicht eine emotionale Überreaktion. Genauso wie wir von einem Tag auf den anderen ins Homeoffice geschickt worden sind, überwiegt aus meiner Perspektive jetzt der Drang nach dem sozialen Gefüge des Büros. Und das auch, weil sich für viele das Homeoffice nicht mit der Organisation der Familie in Einklang bringen lässt. Wie arbeiten denn die meisten zu Hause? Was passiert, wenn die Kinder plötzlich aus der Schule zurück sind und die Küche nicht mehr für eine Besprechung genutzt werden kann, weil jemand an den Kühlschrank möchte? Es haben nicht alle plötzlich größere Wohnungen, nur weil sie von zu Hause arbeiten. Und die Unternehmen werden auch nicht bereit sein, zwei Arbeitsplätze einzurichten und zu unterhalten. Aber ja, es stimmt, wir haben einen Prozess mit Turbobeschleuniger aufoktroyiert bekommen und den werden wir nicht mehr zurückdrehen.

RG: Wir fangen doch gerade erst an, das auszuprobieren, denn die letzten zwei Jahre hatten wir keine Wahl und jetzt haben wir sie wieder. Es gibt Firmen, die erlauben den Mitarbeitenden auch mal, einen Monat von irgendwo zu arbeiten, weil die Firma da eine Gesellschaft hat und das steuerlich abbildbar ist. Und es gibt auch Mitarbeitende, die sehr wahrscheinlich jeden Tag sehr gerne wieder zurück ins Büro kommen, weil sie einfach nicht das nötige Umfeld zu Hause haben. Aber wir haben jetzt die Wahl und das ist ein Gewinn für alle.

HM: Während der Pandemie hat sich räumliche Distanz völlig relativiert. Unser Büro in Bukarest ist in unsere Projektarbeit hier integriert, vor Corona war es immer weit weg. Und von einem Tag auf den anderen war das egal. Es war egal, ob du im Homeoffice 300 Meter weit weg saßt oder eben 1.500 Kilometer entfernt in Bukarest – gearbeitet wurde am gleichen Modell. Das ist die eigentliche Geschichte.

Arbeiten wir dann irgendwann alle im Metaverse?
RG: Nicht alle, aber auch das Metaverse ist einer dieser virtuellen Räume. Ich schätze mal, wir werden in weniger als fünf Jahren eine Vervielfachung der Erlebnisqualität in der virtuellen Welt haben. Wenn einer dann immer noch meint, er müsse weiterhin gleiche Etagen übereinander schichten – kein Anschluss unter dieser Nummer! Das ist eine Sackgasse.

Du hast mal in einem Vortrag gesagt, wenn es egal wird, von wo aus man arbeitet, erlebt die Architektur eine Renaissance. Ist es das, was du meinst?
RG: Ja genau. Das war noch vor der Pandemie. Das wird passieren. Was ich nicht glaube, ist, dass das eine Art „glossy Architektur“ ist wie die vom Beginn des Jahrtausends. Da sahen Gebäude prinzipiell alle gleich aus, innen wie außen. Es gab einen technisierten Style.

HM: Die Architektur der Zeit war monostrukturiert. Heute passiert viel mehr und nicht nur ausschließlich auf der Ebene der Architektur. Wir müssen das in neuen Bildern denken und uns neue Fragen stellen: „Wie funktioniert unsere Stadt? Was passiert um unseren Arbeitsplatz herum, wie ist er mit unserem Leben vernetzt?“ Auch diese Diskussion hatte schon vor der Pandemie zaghaft begonnen. Jetzt reden wir aber in ganz anderen, viel größeren Dimensionen: Welche Flächen sind in Gebäuden öffentlich zugänglich? Und welche dienen dem privaten Rückzug? Welche Flächen sind die, die das soziale Leben der Stadt insgesamt und nicht nur des Unternehmens bereichern? Das ist ein stärkeres Ineinandergreifen von Architektur und Gesellschaft. Wir nennen das hybride Nutzung und das wird die Architektur – gerade in den Innenstädten – ganz massiv verändern. Aber da gibt es dann auch neue Spannungsfelder: Was passiert denn zukünftig mit den Standorten, die im Nowhere stehen?

RG: Da liegt der Fehler in der Produktentwicklung. Und ich frage mich: Wie konnte das passieren? Wie wurde das den Architekten aus den Händen genommen? Das wird jetzt Geschichte werden, jetzt sortieren sich alle neu. Bei Entwicklern erkenne ich, dass sie sehr kritisch darüber nachdenken, mit welcher Art von Produkten und Ideen sie sich zukünftig positionieren. Sie können nicht mehr nur ein Gebäude entwickeln, sondern sie müssen sich überlegen, wofür es steht. In welchem Kontext entwickelt sich das und welche Positionen habe ich zu diesen Themen? Wie wirkt sich mein Geschäft auf Gesellschaft, Nachbarschaft und Umwelt aus?

HM: Das hat sich ja parallel zur Pandemie entwickelt: der Green Deal der EU-Kommission und die darin eingeschlossenen ESG-Themen, die direkt auf die Finanzierung durchgreifen. Das hat die Branche relativ kalt erwischt und führt dazu, dass man nicht mehr seine Finanzprodukte optimiert, sondern auf die politische Ebene getrieben wird. Das sind ganz neue Erfahrungen, mit denen gerade alle lernen müssen umzugehen. Und das ist wirklich eine Herkulesaufgabe, die da gerade in die Architektur drängt und unser Mindset komplett verändert. Die Prioritäten haben sich von heute auf morgen komplett verschoben.



„Mäßige Architektur wird verlieren, qualitätvolle wird gewinnen.“



Und wie müssen sich Unternehmen zukünftig aufstellen, um ihre Teams wieder in das Büro zu bekommen?
RG: Jetzt ins Büro zu gehen, egal bei welcher Firma, fühlt sich schlecht an, weil die Büros halb leer sind. Und das ist natürlich ein Zustand, der nicht tragbar ist. Das macht auch keinen Sinn. Was machen wir mit dem ganzen Platz? Wir heizen die ganzen Häuser, halten sie instand – investieren viel Geld. Im halbvollen Zug zu sitzen ist großartig, aber keiner will in ein halbleeres Büro – das fühlt sich einfach schlecht an.

RG: Ich verstehe aber auch alle, die sagen, ich möchte nicht mehr an jedem Tag ins Büro. Hier brauchen wir zuerst einmal eine kulturelle Transformation, in der wir für uns die Art und Weise der Zusammenarbeit im persönlichen Kontext neu verhandeln. Heißt, wir vereinbaren, dass es bestimmte Tage gibt, an denen wir dann gemeinsam im Büro sind. Aber nicht, um E-Mails zu checken oder um stundenlang in Calls zu sitzen – das macht überhaupt keinen Sinn. Die Zeit im Büro sollte der wirklich notwendigen physischen Anwesenheit entsprechen. Dieser Realität müssen wir uns stellen. Das bedeutet, die Art der Arbeit neu zu organisieren und eher wie die Bundesliga zu denken. Match Day ist Match Day, und dann ist das Stadion voll. Und diese Art von Match Days müssen Unternehmen für sich neu erfinden. Ein Unternehmen wie Deloitte bedient mit seinen neuen Büros in Frankfurt und Düsseldorf aktuell diese Muster.

HM: Die haben da ja alle keine festen Arbeitsplätze mehr ...

RG: Genau, haben die nicht mehr – komplett aufgelöst. Die haben die Büro-Pflicht komplett abgeschafft. Sie haben aber nicht das Problem, dass die Mitarbeitenden nicht mehr zurückkommen wollen, weil die Architektur in einem Höchstmaß auf das Business einzahlt. Bei Deloitte in Frankfurt betritt man eine komplett neu gedachte Bürowelt: Du kommst rein, eine Lobby wie im Hotel. Rechts Restaurant – sieht auch aus wie ein Restaurant, links Conferencing – sieht auch aus wie Conferencing –, und dann gelangt man über Treppen in die erste Etage, und da hast du dann die Teamarbeitsbereiche, wie ein Hotel gedacht – hinter jeder Tür ein Teamarbeitsbereich. Man verabredet sich also mit seinem Team auf einer dieser Etagen zur Zusammenarbeit. Jede Etage hat eine Art Floor Manager, der kümmert sich um alles. Die Toiletten sind sauber, Kaffee ist da, Getränke sind da, Essen ist da – es ist immer alles da. Das heißt, du kommst dahin, du bist mit den Kollegen zusammen, kannst Gas geben. Wenn einer dann mal einen Deep Dive oder Deep Work machen muss, kann er sich in sogenannte Kemenaten zurückziehen – ruhig und konzentriert. Wenn das in dieser Konsequenz umgesetzt wird, funktioniert es auch.

HM: Wobei sowohl Düsseldorf als auch Frankfurt ja beide architektonisch gesehen konventionelle Gebäude sind, und sie stehen in keinem besonders ansehnlichen Umfeld.

RG: Das ist doch der Beweis, dass es funktioniert, wenn man alles auf diese Karte setzt und sie sauber spielt. Noch besser wäre es natürlich in der Stadt.


„Die Finanzindustrie ist der Elefant, der Architekt ist ja eher ein Schmetterling.“


Man muss in Extremen denken, damit man die Bandbreite kennt.
RG: Aber die Flächen werden de facto kleiner. Und dann wird vielleicht eher in gemieteten Satelliten gearbeitet. Das ist dieses Neuland, das wir jetzt betreten. Dazu gibt es keinerlei Referenzpunkte und wir werden jeden Tag neue Erfahrungen machen.

HM: Wir haben in den letzten zwei Jahren definitiv gelernt, dass es Aufgaben im Büro gibt, die wir virtuell sehr gut erledigen können. Und es gibt welche, die funktionieren zur Not remote, aber die machen so dann keinen Spaß. Ich mache zum Beispiel keinen Wettbewerb mehr, wenn mein Akquise-Team nicht im Büro ist. Entwerfen ist ein kreativer Prozess. Ich denke, dass man ein Auto auch nicht virtuell über „Teams“ entwickeln oder designen kann oder dass der Kreativpool hier bei Vitra funktioniert, wenn alle nur am Bildschirm sitzen.

RG: Die Leute waren auch während der Pandemie oft hier im Büro. Das Nature Magazin hat zu dem Thema geforscht: Es gibt in Projekten eine konvergente und eine divergente Phase. Beim Sammeln von Ideen, in der Konzeption, ist es natürlich besser, als Team live zusammenzuarbeiten, mit Stiften, schnellen Brainstormings und so. Da trifft man die wesentlichen Entscheidungen. Aber in nachrangigen divergenten Phasen, wo du nur noch Entscheidungen im Detail treffen musst, geht das Ganze auch remote am Rechner.

HM: Das stimmt. Die Infrastruktur ist da, da ist technisch so viel passiert. Das zu leben, worüber wir jetzt hier sprechen, das ist die Hürde. Und das ist durchaus eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, das kann man ja nicht nur allein im Unternehmen lösen.

RG: Aber in den Unternehmen muss es gelebt werden! Das größte Problem vieler Unternehmen ist aber, dass das Leadership am „Border-Collie-Syndrom“ leidet. Sie können nicht ohne ihre Herde. Nicolas Bloom von der Stanford University betreibt seit Jahren Studien zu dem Thema Work from Home. Ich habe mal ein Interview mit ihm im Radio gehört. Er sagt, dass nicht die Mitarbeitenden das Problem sind, sondern die Manager, weil sie es einfach nicht ertragen, allein in ihrem Unternehmen zu sitzen. Das ganze Haus ist leer, die Herde ist ausgeflogen – „Border-Collie-Syndrom“.

HM: Tatsächlich beginnt es aber mit der gesellschaftlichen Akzeptanz und entsprechenden Strukturen. Das meinte ich mit gesellschaftlicher Gesamtaufgabe, das kann ein Unternehmen allein nicht stemmen. Wenn ich nicht in der Firma arbeite, dann muss ich auch irgendwo einen qualitätvollen Ort haben, wo ich die Arbeit wirklich erledigen kann. Und wenn das im Wohnumfeld eben nicht funktioniert …

RG: Da braucht es eine Alternative. Neue Trends in der Arbeitsplatzgestaltung, in der Arbeitsplatzentwicklung begleiten uns die letzten Jahrzehnte kontinuierlich. Wie sieht aus Deiner Sicht als Future Work Trend Scout bei Vitra die Zukunft aus? Was wird der Wandel in der Wissensarbeit bewirken?

RG: Uns beschäftigt die Frage: In welchen Umgebungen leben oder arbeiten zukünftig Menschen? Denke ich jetzt mal an die räumliche Komponente, gibt es den physischen und den virtuellen Raum der Arbeit und die sind mittlerweile per se gleichberechtigt. Nur wird der virtuelle Raum künftig immer besser werden. Wir werden in zwei oder drei Jahren Systeme haben, die sehr gute, immersive Erlebnisse bieten. Das bedeutet umgekehrt, dass der physische Raum es mit dem virtuellen aufnehmen muss, denn am Ende zählt in beiden nur die Qualität der Wahrnehmung. Für mich gibt es drei Arten von physischen Räumen jeweils mit unterschiedlicher Belegung: der Raum für Rituale, der Raum für Fortschritt und Innovation und der Raum für Transformation. In unserem täglichen Miteinander brauchen wir Räume für Rituale. Rituale basieren auf Kulturtechniken, die in Europa und anderen weiten Teilen der Welt über viele Jahre codiert wurden. Rituale sind gemeinsames Essen, gemeinsames Lernen, also Exploration. Rituale sind Kulturveranstaltungen. Ritual heißt auch Erfolge feiern. Also in der Arbeit von morgen brauchst du diese Räume für Rituale. Die gab es auch schon vor der Pandemie. Ein weiterer Raum ist der für Innovationen und Fortschritt. Große Think Tanks sagen voraus, dass wir Mitte des Jahrhunderts jeden zweiten Euro mit Produkten und Services verdienen, die heute noch nicht existieren. Sie gehen von einer sehr schnellen Transformation hin zu einer gesellschafts- und umweltfokussierten Wirtschaft aus. Es gibt an die 20 Zukunftsmärkte, der größte davon ist der der Green Economy. Die machen es erst möglich, dass wir jeden zweiten Euro mit etwas verdienen können, was es heute noch nicht gibt. Dafür brauchst du Räume, in denen diese Innovationen entstehen. Das sind mit Sicherheit nicht die Büroetagen, wie wir sie heute kennen. Für mich sind das Turnhallen des Geistes, wo man relativ einfach Settings zusammenstellen kann und an Ideen und Aufgabenstellungen kollaborativ arbeitet. Der dritte Raum ist für die Transformation. Wir reden immer von dieser digitalen Transformation. Doch die große Transformation ist nicht die der digitalen Transformation, sondern die der Wirtschaft. Und auch da sind sich die Think Tanks einig. Sie sagen voraus, dass alle Unternehmen, egal, ob DAX-Konzern, Mittelstand oder Startup, zukünftig dasselbe Ziel haben: in ihrem Segment die Technologieführerschaft zu erreichen oder aufrechtzuerhalten. Und dabei besteht der wesentlichste Aspekt darin, dass du deine Leute mit auf die Reise nimmst. Nach deren Prognose wird es etwa 35 Prozent der Jobs, die wir heute noch kennen, nicht mehr geben, und die anderen 65 Prozent werden sich verändern müssen. Wo findet das statt? Das wirst du niemals im Homeoffice machen können oder im Co-Working-Space und auch nicht mit einem Tutorial. Das bedeutet, die zukünftigen Orte der Arbeit sind Häuser der Transformation. Und so kann man diese Art Arbeitsarchitektur denken.


„Das größte Problem ist, dass das Leadership am Border-Collie-Syndrom leidet.“


HM: Und wo ist da jetzt der Arbeitsplatz?

RG: Das ist alles eine Art Arbeitsplatz. In unserer alten Codierung entspricht der Arbeitsplatz 160 mal 80 mit Stuhl und Tisch und dem Rest als Beiwerk. Das heißt, wir haben den Wald eigentlich nur aus der Spezies der Fichte betrachtet; nur diesen Wald gibt es nicht mehr, weil es eine Monokultur war. Wir müssen quasi in Ökosystemen denken und das sind dann die Arbeitsplätze. So sind wir codiert.

HM: Und diese Codierung muss man jetzt umstellen auf etwas, das kein fester Arbeitsplatz mehr ist, sondern nur noch Team- und Kollaborationsflächen. Das ist für viele ja auch sowas wie der Verlust von Heimat. Vorreiter dafür ist da mal wieder die Automobilindustrie. Ich war gerade bei Porsche in der Taycan-Fertigung. Die Leute dort sind alle Hightech-Spezialisten. Die Materialanlieferung passiert auf autonom fahrenden Fahrzeugen. Der Mitarbeiter bestellt sich seine Teile, die kommen irgendwo angefahren, der wechselt seine Arbeit, damit es nicht monoton wird.

RG: Ja, die sind uns wieder mal weit voraus. Wenn man hier bei Vitra ins Assembling geht, wo die Produkte zusammengebaut werden, da wechseln die Teams ständig. Wir kriegen immer die unterschiedlichsten Lieferungen rein, wie bei der Autoproduktion. Was uns da fehlt, sind Referenzpunkte. Aber: Deine Erfahrung bei Porsche, das ist ja ein neuer Referenzpunkt für dich, um zukünftig bei der Beratung eines Bauherren ganz anders und neu zu denken und ihn zum Nachdenken – zum Verlassen seiner codierten Denke – herauszufordern. Clemens Fuest, Präsident, ifo Institut für Wirtschaftsforschung, hat neulich im Handelsblatt-Podcast gesagt: „Wir müssen Zukunft aus der Zukunft gestalten, nicht aus der Gegenwart.“ Wir hängen bei fast allem in der Gegenwartsfalle fest.
 

Wie richtet Vitra seine Produkte in Zukunft aus?
RG: Natürlich haben wir Produkte bei Vitra, deren Bestimmung im Büro liegt, wie ein Bürodrehstuhl. Den wirst du nicht zu McDonalds reinschieben, den wirst du nicht in einem Hotel oder irgendwo in einem Restaurant finden, den wird es auch nicht zu Hause am Küchentisch geben. Doch der Großteil unserer Produkte hat per se erst mal keine Bestimmung. Nimm als Beispiel den Standard Chair von Jean Prouvé, den findet man bei McDonalds. Den findest du in Hotels, den findest du im Büro und den findest du bei den Leuten zu Hause. Wir sind in der realen Welt, den „Physical Realities“, zu Hause. Natürlich beobachten wir die virtuellen Welten, nennen sie „Extended Reality“. Ich glaube, die Codierung von physischen Artefakten, zum Beispiel einem Stuhl, im Sinne von Schönheit, von Formensprache, von Materialität, wird in einem hohen Maß von uralten Codes, die weit weg, ganz tief irgendwo hinterlegt wurden, bedient. Und es ist noch Luft nach oben. Es gibt mit Sicherheit irgendwann einen neuen Standard eines Stuhls, der sich für die Küche genauso gut eignet wie für die Arbeit. Aber das ist dann auch nur eine Reaktion auf eine bestimmte Zeit.

HM: Nimm als Beispiel euren Eames-Stuhl. Der war vor 50 Jahren gut und das für unterschiedliche Zwecke. Und der ist auch heute noch gut für unterschiedliche Zwecke. Und er hat eben eine gewisse Zeitlosigkeit und Qualität. Und ich glaube, das wird ein wesentliches Thema werden, dass wir uns jetzt viel mehr unter diesem ganzen Nachhaltigkeitsaspekt damit auseinandersetzen, dass wir eben nicht mehr eine Wegwerfgesellschaft sein können, dass wir uns diesen Luxus nicht mehr erlauben können, alles wegzuwerfen, dass wir eine Architektur recyceln müssen.

RG: Ja, wir müssen wieder verstärkt in Kreisläufen denken und Produkten und Materialien einen zweiten oder dritten Lebenszyklus verschaffen. Wir haben den Altmöbelbestand von Alnatura zurückgenommen, aufgearbeitet und im neuen Alnatura Headquarter wieder eingesetzt. Oder Upcycling: Die neuen Bezugsstoffe für die Bundestagsstühle sind aus zu 100 Prozent recyceltem Material. Seit 1992 sitzen die Abgeordneten übrigens auf dem Figura-Sessel von Vitra. Die Stühle werden alle paar Jahre von unserem Service-Team gewartet. Das ist für Vitra natürlich ein schönes Statement hinsichtlich Qualität und Nachhaltigkeit.

HM: Wir waren in den letzten Jahren viel zu sehr mit Wegschmeißen und Neu-Machen beschäftigt. Dass wir die Dinge, die wir haben, weiterentwickeln, gerade in Bezug auf Architektur, und nicht immer abreißen und neu bauen, das wird unser Mindset nachhaltig verändern. Dass wir alles mehr als einen Prozess begreifen im Sinne von Bewahren. Das sollten wir weiterentwickeln. Wir Architekten müssen Aufgaben flexibel denken, dass es zukünftig Unterschiedliches sein kann. Wir müssen Althergebrachtes im Sinne neuer Referenzpunkte kritisch hinterfragen: Ist es richtig, dass ich drei Untergeschosse für eine Tiefgarage baue, von der ich weiß, dass sie in 15 Jahren nicht mehr gebraucht wird? Ist es da nicht cleverer, ein Parkdeck danebenzustellen, das ich entweder umnutzen oder wieder abbauen und irgendwo anders wieder aufbauen kann im Sinne von Re-Use? Und diese Fragen muss ich mir bei jedem neuen Haus, jedem neuen Projekt stellen. Und beim Möbel werden wir genauso denken und sagen, das ist doch noch gut so oder man lebt mit der Macke. Und dann gibt es Sachen, die haben sich verändert, weil wir sie heute und hier anders brauchen. Und das ist eben ein Möbel, das ich für eine virtuelle Kommunikation brauche. Ein Raum, den ich vorher nicht hatte, wo ich zu zweit eng an einem Bildschirm sitze und den besten dreidimensionalen Bildschirm in der virtuellen 3D-Welt habe, den ich heute noch nicht kenne. Und dafür brauche ich dann wieder eine Art Möbel.

RG: Die gibt es in der Art natürlich schon! Wir haben „Alcove“ seit 2016 im Programm – ist mittlerweile eine Produktkategorie bei vielen Büromöbelherstellern. Die Mikroarchitektur findet sich in vielen Büros und Hotellobbys.

Also verschwimmen für euch die Grenzen zwischen der digitalen und analogen Welt zunehmend?
RG: Wir werden uns sehr bewusst dazwischen bewegen und in beiden Welten das Beste für den Moment erfahren. Wir denken auch nicht in Abgrenzungen, wir denken nicht in Entwederoder. Wir denken in Sowohl-als-auch. Und wir lernen auch. Jeder von uns wird eine Form finden, in diesen Extremen besser zu leben, weil wir gelernt haben, mit Extremen umzugehen. Diese Welt ist eben nicht schwarz oder weiß, sondern sie setzt sich aus unterschiedlichen Schattierungen zusammen. Und wir werden lernen müssen, uns in diesen Spannungsfeldern zu bewegen, um dann wieder Potenziale herauslösen zu können. Wie weit das geht, sieht man heute schon in den Industrial Light & Magic Studios von Lucasfilm. Dort gibt es einen Raum, einen offenen Zylinder, in dem man auf Knopfdruck sofort die Umgebung wechseln kann. Die Wände des Zylinders sind große Displays. Und das ist die nächste Stufe, wir werden das Beste aus der physischen und der virtuellen Welt miteinander kombinieren und so in Bruchteilen von Sekunden in Fragestellungen abtauchen, die du das erste Mal räumlich visualisieren kannst. Ein immersives Erlebnis, das beamt dich völlig weg – wenn virtueller Raum und Realität verschmelzen. Da macht es im Kopf sofort Ding-Dong. Es wird in Zukunft viel mehr neue Tools geben, wie die von Lucasfilm, die dann alternativlos für diese Art der Arbeit sein werden, das wird man in einem physischen Kontext nicht mehr abbilden. Aber wir werden weiterhin Orte für Rituale haben, die von ihrer Codierung her so stark sein werden, dass du sogar dein Handy oder das, was es dann gibt, ausstellen wirst, wenn du da reingehst.

Danke für diese interessanten Ausblicke!