Interview: Lars Oliver Stapler
Fotos: Robertino Nikolic
Zu einem Austausch über aktuelle Themen der Nachhaltigkeit trafen wir Winfried Seidinger und Christian Schneider von der schweizerischen Lemon Consult AG zu einem Segeltörn auf dem Zürichsee.
Winfried Seidinger, Gründer & Partner der Lemon Consult AG
Gelernter Elektromechaniker, Dipl. Elektroingenieur FH und Energieingenieur NDS FH, gründete die Lemon Consult AG im Jahr 2000 in Zürich. Er erarbeitet Energie- und Technikkonzepte für Wettbewerbsentwürfe sowie für Neubau- und Sanierungsprojekte. Ebenso unterstützt er die Entwicklung gesamter Areale hinsichtlich energetischer Fragestellungen. Zu seinen Projekten zählen viele, die auch das Frankfurter Stadtbild prägen.
Christian Schneider, Partner der Lemon Consult AG
Stieg 2008 bei der Lemon Consult AG ein und ist seit 2019 Partner und Mitglied der Geschäftsleitung. Als studierter Umweltnaturwissenschaftler berät er Bauherrn und Architekten zur Nachhaltigkeit und Energieeffizienz, erstellt Energie- und Machbarkeitsstudien zu Energieeffizienzmaßnahmen sowie erneuerbarer Energieerzeugung. Zudem untersucht er die Machbarkeit von Nachhaltigkeits- und Energielabels und arbeitet an Forschungsprojekten.
IN WELCHE ZUKUNFT STEUERN WIR?
Passend zu unserem Segeltörn – die Immobilienbranche in Deutschland befürchtet laut IZ, dass 50 bis 75 Prozent der Bestandsimmobilien in Deutschland zu sogenannten „Stranded Assets“ werden könnten, Immobilien, die am Markt nicht mehr zu platzieren sind. Da geht gerade ein wenig die Angst um, wie sich das entwickeln wird. Wie ist es bei euch in der Schweiz? Stehen seit der Einführung der EU-Taxonomie bei euch in der Schweiz die Telefone nicht mehr still?
Christian Schneider (CS): Es hatte sicher Auswirkung auf unsere Auftragslage, aber dass die Telefone jetzt nicht mehr stillstehen, würde ich nicht sagen. Ich glaube, die Panik hält sich in Grenzen. Es betrifft ja nicht die Schweiz direkt, weil wir nicht in der EU sind. International agierende Firmen, die in das europäische System eingebettet und auf dem Finanzmarkt aktiv sind, betrifft es schon. Von daher ist es hier noch relativ gemächlich, aber man merkt schon, dass größere Investoren einen gewissen Druck verspüren, ihre Investitionen in Richtung Nachhaltigkeit zu steuern. Was ich mir aber nicht vorstellen kann, ist, dass wir 50 Prozent unserer Immobilien einfach abschreiben. Ich glaube, der Wertverlust ist am geringsten, wenn man sie anpackt und saniert. Und da braucht es natürlich alle Beteiligten, alle involvierten Stakeholder, auch die Städte, Gemeinden und Kommunen.
Winfried Seidinger (WS): Investoren und Bestandshalter werden sehr genau schauen, mit welchen Immobilien sie die Ziele der EU-Taxonomie mit vernünftigem Aufwand erreichen können. Die restlichen werden sie wahrscheinlich abstoßen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass sich dann auch die Spreu vom Weizen trennt. Ich sehe aber schon einen zusätzlichen Druck auf die Immobilienbranche und da wird für uns dann eine erhöhte Nachfrage entstehen. Projekte, die vielleicht auf der Kippe stehen und Gefahr laufen zu stranden, werden neuen Schub kriegen. Ich glaube, wir werden nicht arbeitslos in der nächsten Zeit.
Gregor Gutscher (GG): Wir merken bei vielen Projekten gerade, dass sich das Mindset ändert und Lösungen, die Winfried und ich vor 20 Jahren schon angedacht und auch teilweise realisiert haben, nun zur Normalität werden. Unsere Ideen scheiterten damals oft an der Wirtschaftlichkeit. Jetzt holen wir all die Sachen wieder aus der Mottenkiste. Das haben wir zurzeit bei fast jedem Projekt. Wir nehmen X Prozent mehr TGA-Kosten in die Hand, um diese Ziele zu erreichen, auch und gerade bei den Sanierungsprojekten.
Ist das Thema bei euren Kunden angekommen oder müsst ihr manchmal noch den Missionar spielen?
WS: Es gibt beides. Es gibt Bauherrn und Architekten, die sehen darin eine Chance, etwas Nachhaltiges und Kreatives zu realisieren (z. B.: Re-Use, Cradle to Cradle). Es gibt jedoch auch andere, die sehen nur den Mehraufwand und eine Behinderung ihrer Gestaltungsfreiheit. Der Absenkpfad hin zu Netto-Null CO₂ bis 2050 ist klar definiert. Die Realität in der Umsetzung ist jedoch oftmals nicht ganz so einfach. Es braucht eine gesamtheitliche Betrachtungsweise und viele kleine Einzelmaßnahmen zur Optimierung, die in der Summe den Mehrwert ergeben.
Mit der Einführung der EU-Taxonomie müssen nun „harte“ Kriterien erfüllt werden. Diesen neuen Gegebenheiten müssen wir uns stellen und gemeinsam nach neuen Lösungen suchen. Eine spannende Herausforderung, die sich lohnt, mit „Schmackes“ zu investieren.
GG: Man muss auch mutig neue, vielleicht unkonventionelle Wege beschreiten, wie deine Idee, in Büros den Schreibtisch und den Stuhl zu beheizen, anstatt das ganze Gebäude!
WS: Es gibt viele Wege – eventuell auch unkonventionelle –, die zum Ziel führen können. Wenn die Gebäudehülle immer besser wird, dann musst du dich zum Beispiel fragen, ob es sich
noch lohnt, viel Geld in die TGA zu investieren oder ob das Geld vielleicht wo anders besser oder nachhaltiger investiert werden kann. Wir schauen dann nach den bestmöglichen einfachen Lösungen. Dabei hilft uns das integrale Wissen aus Bauphysik, Nachhaltigkeit und TGA sowie aus der Entwicklung und der Anwendung einer breiten Palette von Simulationstools.
Holger Meyer (HM): Wir wissen alle vom Grundsatz her, was richtig ist. Wir haben eine Menge neuer technischer Möglichkeiten, aber der maßgebliche Unterschied ist, dass es seit 2022 gesetzliche Vorgaben gibt. Damit müssen sich jetzt Eigentümer und Entwickler auseinandersetzen. Es gibt da keine Alternative mehr. Und das führt natürlich schon zu einer ganz neuen und anderen Diskussion in der Breite.
CS: In den letzten Jahren hat sich auch ein Generationenwechsel vollzogen. Es rücken Leute nach, die sich schon länger mit der Thematik befassen. Das macht die Diskussion einfacher. Man diskutiert über Sachlösungen und nicht über Grundsätzliches. Um die Ziele zu erreichen, braucht es eben auch alle, vom Landschaftsplaner über den Architekten bis zum Statiker und natürlich auch dem Bauherrn, der das trägt. Diese Konstellationen sind heute wahrscheinlicher als noch vor zwei Jahren.
GG: Stimmt, das merken wir an anderer Stelle bei uns im Büro. Da gibt es neue junge Kolleginnen und Kollegen mit vielleicht zwei, drei Jahren Berufserfahrung, die mit anderen Ideen daherkommen. Die holen mich gerne mal aus meinem gewohnten Trott, wenn ich meine üblichen Standards auspacke: 3,50 Geschosshöhe, 8,10 mal 5,40 Meter Stützenraster, 30 Zentimeter Decke, 400 Quadratmeter Nutzungseinheit ... Da kommt dann so eine Frage wie: Und was ist mit Holzhybrid? Dann denke ich: Okay, kurz nochmal einen Moment nachgedacht, kann man ja auch anders machen, führt im Detail zu anderen Parametern. Aber das ist für mich genau der Punkt, dass man, auch wenn man schon lange im Geschäft ist, dennoch in der Lage ist, die Sachen wieder gesamthaft infrage zu stellen. Und das ist doch jetzt richtig gut, dass Sachen auf einmal gehen, weil das Mindset auf der Auftraggeberseite sich deutlich geändert hat.
Neben dem Mindset hilft uns die Digitalisierung, Potenziale zu erkennen und zu heben. BIM oder CREEM sind ja, was den Neubau angeht, in den Großprojekten schon sehr verbreitet. Wie setzt ihr diese digitalen Tools in eurer Arbeit ein?
WS: In unserer Arbeit konzentrieren wir uns darauf, den Ressourcenbedarf von Gebäuden zu reduzieren und den Restbedarf dann möglichst durch Erneuerbare Energien und Materialien etc. zu decken. Digitale Modelle – man redet heute vom digitalen Zwilling – sowie der Einsatz von Simulationswerkzeugen helfen uns, den künftigen Energiebedarf und damit den CO₂-Ausstoß vorherzusagen. Bzw. in Zukunft den digitalen Zwilling anhand der effektiven Nutzungsdaten und der effektiven klimatischen Bedingungen zu füttern sowie verfeinerte Prognosen zu erstellen. Jedoch nicht nur die integrale Betrachtungsweise auf Raum oder Gebäudeebene wird dank digitaler Modelle ermöglicht, sondern auch die Betrachtung von Quartieren und Stadtteilen nimmt an Bedeutung zu. Themen wie Hitzeinseln, Mikroklima, gute Durchlüftung, Fallwinde aufgrund von Hochhäusern können wir heute simulieren und die Quartiers- und Stadtplanung bei ihrer Optimierung nachhaltig unterstützen.
Für mich sind das die Themen, die extrem spannend sind: die Nachhaltigkeit in der Stadtentwicklung weiterbringen. Also nicht nur das einzelne Objekt nachhaltig zu planen, sondern im größeren Maßstab zu fragen: Was ist wirklich nachhaltig? Und da kommst du auf dem Land zu ganz anderen Lösungen als in der Stadt. Und diese Dinge zu sehen, das macht’s für mich wirklich aus. Wir sehen einen stetigen Drang in die Städte, deren Flächenbedarf zunimmt, und wir müssen dort wirklich hin zu höherer Verdichtung und Flächeneffizienz. Umgekehrt müssen wir uns für die ländlichen Teile fragen, was man dort überhaupt braucht? Da muss zukünftig vielleicht sogar rückgebaut werden oder man stellt diese Teile als Materialspeicher zur Verfügung. Das ist eine andere schwierige Diskussion, da geht es um Heimat. Aber wenn man Suffizienz richtig denkt, müsste man eben auch solche Überlegungen mit ins Spiel bringen und nicht nur das einzelne Gebäude.
„Wenn jetzt alle aufgeben, kommen wir nicht weiter.“
Urban Mining auf dem Land?
CS: Urban Mining ist ja schon jetzt ein Thema. Die Problematik von CO₂ durch den Betrieb kann man technisch in den Griff bekommen. Beim Thema gebundenes CO₂ – das beim Bau des Hauses in allen Materialien gebunden ist – haben wir aber noch große Probleme: Das fängt beim Stahl an, geht über den Beton bis hin zu Glas und anderen Bauteilen, die viel mehr CO₂ gebunden haben, als im Betrieb entsteht. Und da ist Urban Mining, die Wiederverwertung bestehender und verwendeter Materialien, ein Weg, das gebundene CO₂ durch Re-Use zu senken. Es braucht genau diese Art der Nachnutzung, um Treibhausgasemissionen einzusparen, aber auch um Ressourcen insgesamt zu sparen. Metalle wie Kupfer oder Aluminium beispielsweise sind begrenzt verfügbar oder nur mit einem hohen Energieaufwand herzustellen. Und da muss man in Zukunft auf bereits verbaute Ressourcen zurückgreifen und das wird sich in Zukunft auch lohnen.
Für Architekten kommt aber noch etwas Entscheidendes hinzu: Sie müssen die zukünftigen Gebäude so planen, dass man Bauteile einfach demontieren und weiterverwenden kann, dazu sind solche Häuser kosteneffizienter. Man kann mit einer solchen Immobilie in Zukunft mit viel geringeren Kosten Urban Mining betreiben und so die Bauteile mit einem höheren Gewinn wieder verkaufen. Und das Ziel muss sein, sie möglichst so auf den Markt zu bringen, dass man sie direkt wiederverwenden kann.
Müssen wir nicht alle insgesamt suffizienter denken und handeln?
WS: Suffizienz hat für mich eine größere Dimension. Suffizientes Denken und Handeln müssen in vielen Bereichen etabliert werden und wir müssen uns in Zukunft Fragen stellen, deren Beantwortung uns vielleicht nicht immer einfach fallen wird. Ich denke da zum Beispiel an das Haus meiner Eltern. Da lebt mein Vater jetzt allein auf 180 Quadratmetern. Diese Art der ineffizienten Flächenausnutzung müsste meiner Meinung nach hinterfragt und konstruktive neue Lösungen gesucht werden. Dann hätte man schnell wieder Wohnraum für Familien. Wir führen solche Diskussion gerade mit Wohnbaugenossenschaften in Zürich und das geht schon sehr in Richtung suffizienter Wohnraumnutzung: Familien haben in der Genossenschaft ein Anrecht auf eine Wohnung mit viereinhalb oder fünfeinhalb Zimmern. Wenn die Kinder dann aber draußen sind, kriegst du in der gleichen Genossenschaft eine Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung zugewiesen.
GG: Ich war 2012 bei der Ausstellung „40 Jahre Olympiastadt“ vom Stadtplanungsamt in München. Da waren auf dem Fußboden mit Gaffer-Tape die durchschnittlichen Quadratmeter der Wohnungen pro Einwohner von 1972 und 2012 abgeklebt. Damals lag der Faktor zwei dazwischen. Jetzt ist es sicher sogar Faktor drei.
CS: Aber das Thema Suffizienz hat ja noch viel mehr Facetten als nur die Flächeneffizienz. Diesen Winter können wir mal üben, was es bedeutet, suffizient zu handeln. Zum Beispiel die Raumtemperatur in Gebäuden auf 19 oder 20 Grad herunterdrehen. Und dann kommen wir zur nächsten Diskussion: Ist das überhaupt rechtlich zulässig? Und da orte ich dann das nächste Problem: Wir haben die Anforderungen gerade bei der Normung und den Gesetzen immer hochgeschraubt. Jetzt ist es vielleicht an der Zeit, dass wir an einigen Stellen zurückgehen und wieder etwas mehr zulassen.
GG: Genau! Man muss im Zweifel auch bestehende Regeln einfach mal neu denken!
Werden wir den Turnaround schaffen?
WS: Wir sind die Ingenieure – wir schaffen es immer. Der Ingenieur ist Zweckoptimist. Viele Lösungen führen zum Ziel, wenn auch über Irrwege, die man durchschreiten muss. Aber ich bin Optimist und sage: Wir schaffen es.
CS: Ich bin Naturwissenschaftler und Ingenieur. Wir müssen uns verdammt sputen und wir haben noch eine Riesenaufgabe vor uns. Wir können es schaffen. Weltweit ist die Aufgabe noch größer als in Europa. Und es wird nicht gehen, ohne dass wir den Gürtel enger schnallen, sprich wir alle suffizienter handeln.
HM: Ohne die persönliche Komfortzone zu verlassen, wird das nicht funktionieren. Aber das will politisch immer niemand anfassen. Die ehrliche und offene Ansprache ist der Hemmschuh. Aber die Basis, auf der wir diskutieren, ist schon sehr viel größer geworden und das ist dann tatsächlich ein Beschleuniger, wenn man eine Bereitschaft bei allen Partnern der Kette erkennt, mit der wir es zu tun haben. Dann, glaube ich, kann man in sehr viel kürzerer Zeit auch sehr viel mehr erreichen. Und ich glaube, die Kurve der Entwicklung, die wird steiler werden. Ob die dann zum Ziel reichen wird, wird man sehen. Aber ich glaube, sie wird an Tempo aufnehmen und auch nicht mehr zurückzudrehen sein.
WS: Es braucht kreative Köpfe, um diese Themen weiterzuentwickeln und voranzutreiben.
Vielen Dank für das interessante Gespräch.