Interview: Lars Oliver Stapler, Meike Weber
Fotos: Andreas Reeg


WIE VIEL STADT BRAUCHT DIE STADT?

„Die Stadt erscheint mir ein System zu sein, das mehr und mehr an seine Grenzen gerät.“, proklamierte jüngst Rem Koolhaas in einem Interview der brandeins. Zweifelsohne stehen unsere Städte vor einer Vielzahl an Herausforderungen. Steigende Boden- und Immobilienpreise, Wohnungsengpässe durch knappe Flächenreserven und Flächenkonkurrenzen. Verkehrs- und Infrastrukturprobleme verursachen Umweltkonflikte und Anforderungen an Klimaneutralität und Digitalisierung. Leerstandsquoten und Gewerbesteuerausfälle, demographischer Wandel und Gentrifizierung bis hin zu wachsenden Mitspracheforderungen der Stadtgesellschaft führen bewährte Modelle an ihre Grenzen. Zugleich liegt gerade in der Nähe zu den Menschen eine große Chance der Kommunen, wie Benjamin R. Barber in „If Mayors Ruled The World”, so treffend beschrieb. Haben die Städte dies bereits erkannt? Welche Zukunftsstrategien und konkreten Ansätze verfolgen sie? Wie können Kommunen und Architekten gemeinsam Lösungen entwickeln? Welchen Beitrag kann Architektur zur Stadtentwicklung und Aufenthaltsqualität des öffentlichen Raums und damit für die Stadtgesellschaft leisten?





Start Paulskirche – Wiege der Demokratie     Als Geburtsort der deutschen Demokratie nehmen wir die Paulskirche als Sinnbild für die Frage der Gestaltung der Städte von morgen, bei der es auch um mehr Demokratie, Partizipation und Mitbestimmung geht. Der Platz an der Paulskirche ist ein Ergebnis der frühen Nachkriegsplanungen der 1950er Jahre: Er liegt an einer breiten, die gesamte Innenstadt teilenden, vierspurigen Straße. Wie kann sich an solch einem Punkt die zukünftige Stadt entwickeln?

Martin Hunscher (MH): Wir können hier gut die Haltung der Stadtplanung der 1950er bis 1960er Jahre erkennen. Wir sprechen von der „autogerechten“ Stadt. Früher säumten die Frankfurter Börse und andere bedeutende Gebäude den Platz. Heute ist er leer und ohne Kontur. Unsere größte Herausforderung der nächsten Jahre ist es, eine neue Vision der öffentlichen Räume Frankfurts ohne motorisierten Verkehr zu entwickeln. Was könnte stattdessen auf Straßen und Plätzen passieren? In einem Masterplan für die Innenstadt wurde zwar festgelegt, mehr Platz für Fahrradwege und Fußgänger zu schaffen, aber wir haben es bisher versäumt, den Straßenraum für den motorisierten Verkehr zu reduzieren, um mehr Flächen für die Stadtbenutzer zu generieren.

Gregor Gutscher (GGU): Historisch orientierten sich die Durchwegungen Frankfurts von der Zeil nach Norden und Süden und ermöglichten eine schnelle Querung der Stadt. Nach dem Krieg wurde dieses Konzept zugunsten der autogerechteren Ost-West-Querung aufgegeben.

Mikael Colville-Andersen (MCA): Ich war noch nie in Frankfurt. In den Zeitungen liest man über die Städte, die etwas Großes bewegen: Paris schafft 65.000 Parkplätze ab; Amsterdam 10.000 – das sind Schlagzeilen. Das gehört zur Marke einer Stadt genauso wie das öffentliche Leben. Ich habe aber noch nie etwas Vergleichbares über Frankfurt gelesen – eigentlich über keine deutsche Stadt.

Holger Meyer (HM): Paris, London, diese Städte standen vor riesigen Problemen. Städte reagieren träge. Erst wenn der Druck zu hoch ist, erarbeiten sie Konzepte. An diesem Punkt sind wir noch nicht angekommen. Wir haben Probleme mit der Organisation des Verkehrs, aber es hat noch immer irgendwie funktioniert. Der „Leidensdruck“ ist wohl noch nicht hoch genug, wirklich eine grundlegende Veränderung herbeizuführen.

MH: Die Auseinandersetzung mit dem Klimawandel ist der Türöffner, um die Stadt in ihren öffentlichen Räumen besser zu gestalten. Wir müssen die Diskussion vorantreiben. Die Qualität des städtischen Raums stand bisher dabei nicht im Vordergrund, sondern meist nur dessen Funktionalität. Darum ist die Stadt heute so, wie sie ist.

MCA: Kein Land auf der Welt ist bei der Diskussion über den Klimawandel so weit wie Deutschland und dennoch liegt es bei der Umsetzung der sich daraus ergebenden Chancen weit zurück.

 

Gemüse von der Zeil     Die Zeil in Frankfurt ist die größte, beliebteste und, was die Mieten betrifft, teuerste Einkaufsstraße Deutschlands. Doch der stationäre Handel stagniert. Große Kaufhäuser und Läden schließen. Gibt es Ideen, wie man aus den Donuts wieder Krapfen machen kann?

HM: Das passiert ja in jeder Stadt. Die Haupteinkaufsstraßen sind ein Entwicklungsproblem oder eine Chance, das ist ambivalent. Der stationäre Handel stirbt. Was passiert also mit solchem Leerstand? Hier liegt die nächste Herausforderung der kommenden Jahre – die Entwicklung einer Vision für solche Einkaufsstraßen.

MH: Frankfurt ist das Herz der Rhein- Main-Region. Frankfurts Innenstadt muss daher funktional der zentralste, virulenteste Ort der Region bleiben. Es kann deshalb nicht nur um Wohnen gehen, wir müssen über neue Nutzungen nachdenken, um Menschen aus der Region in die Innenstadt zu bringen. Wir diskutieren zum Beispiel, die Oper oder andere kulturelle Einrichtungen anstelle der großformatigen Kaufhausstrukturen auf der Nordseite der Zeil anzusiedeln.

MCA: Hier an der Zeil würde ich Geld in urbane Landwirtschaft stecken. Das Haus dort hat vier Stockwerke, da könnte man eine eindrucksvolle Anlage einrichten, um Obst und Gemüse für die ganze Stadt anzubauen. In Kopenhagen versorgt so eine Indoor-Anlage fast die ganze Stadt mit Gemüse.

GGU: BOMBE! Gemüse für die Kleinmarkthalle aus dem Urban-Garden-Outlet-Store.

MCA: Wir müssen uns von althergebrachten Denk- und Entscheidungsmustern befreien. Mailand ist ein gutes Beispiel. Die Stadt lässt Bürgerinnen und Bürger in ihrem Viertel selbst aktiv werden, fördert Ideen unbürokratisch. Man könnte doch ein Haus für fünf Jahre den Bürgern überlassen, um dort ihre Ideen zu entwickeln und umzusetzen, von denen wir vielleicht noch nie etwas gehört haben.

MH: Dem steht das derzeitige deutsche Planungsrecht im Weg. Wir diskutieren schon lange die nötigen Änderungen. Zum Beispiel den Wechsel vom Handel und Gewerbe zum Wohnen. Doch da Gewerbefläche höhere Bodenwerte als Wohnflächen bedeutet, endet aufgrund der Regelungen zum so genannten Planungsschaden auch schon die Diskussion.

MCA: Wenn aber jemand kommt und etwas Verrücktes macht, das Menschen anzieht, ist das auch gut für den Eigentümer. Gute Ideen schaffen Leben und Dynamik und plötzlich sagen alle: „Wow, was für eine coole Idee.“ Deshalb sollte die Politik die Eigentümer überzeugen, solche Objekte dafür zur Verfügung zu stellen.

Off Space: Hauptwache

HM: Die Hauptwache ist einer der ältesten und wichtigsten Plätze Frankfurts. Mit dem Bau der S-Bahn-Hauptstrecke unter der Zeil entstand hier in den 1970er Jahren einer der größten Knotenpunkte des ÖPNV. Seit 20 Jahren will man den Platz verbessern. Seit einiger Zeit ist der Platz für den Autoverkehr gesperrt, das hat ihn aber nicht attraktiver gemacht.

MH: 1999 lief ein Gestaltungswettbewerb für den gesamten Bereich Zeil mit Hauptwache und Konstablerwache. Die Idee war es, die Hauptwache als historisches Ensemble wiederherzustellen und den tieferliegenden Bereich wieder zu schließen. Seitdem diskutiert die Stadt, was hier passieren soll. Alle fünf Jahre bekommen wir die Aufgabe, neue Ideen zu entwickeln. Wir planen jetzt, den abgesenkten Bereich zu einer Art Arena umzubauen und mit Anrainern und Nutzern ins Gespräch zu kommen. Es könnte eine Keimzelle für viele Aktionen hier an der Hauptwache sein.

MCA: Lassen Sie die Bürger doch selbst Ideen entwickeln, als eine Art temporärer Urbanismus. Teilen Sie den Platz in vier gleiche Quadrate und dann sollen unterschiedlichste Nutzer der Stadt, Kinder, ältere Menschen, Skateboarder, Migranten, je ein Viertel bespielen. Am Ende nimmt man die besten Ideen und gestaltet den Platz auf der Grundlage um. So ein Projekt hat noch keine Stadt auf der Welt gemacht.

Hinter der Fassade     Es gibt in der Innenstadt von Frankfurt viele öffentliche Parkhäuser. Das Börsenparkhaus ist eines davon. Es steht im Innenhof der Frankfurter Volksbank gegenüber dem Börsenplatz. holger meyer architektur hat hier eine Bebauung entwickelt, die den rückwärtigen Bereich zwischen Neubau und Parkhaus mit Bars und Cafés belebt.

HM: Ursprünglich wollten wir das Parkhaus abreißen, stattdessen eine Tiefgarage bauen und ein schmales Hochhaus obendraufsetzen, um einen offeneren Platz zu haben. Aber niemand wollte diesen Weg gehen. Selbst die Idee, die vordere Parkplatzreihe der zwei untersten Ebenen des Parkhauses zur Platzseite umzunutzen und mit Läden oder Gastronomie auch diese Seite des Platzes zu beleben, wurde vom Parkhausbetreiber abgelehnt, weil die Stellplätze mehr Miete bringen. Da hätte ich mir eine Vorgabe von der Stadt gewünscht.

MH: Es ist interessant, was in den nächsten Jahren mit den Parkhäusern in der Innenstadt passieren wird. Wenn wir die Mobilität in der Stadt verändern, muss ihre Zeit vorbei sein. Das ist eine neue Chance für die Stadtentwicklung, wird aber auch eine heftige Diskussion werden.

HM: Hier tritt ein Sinneswandel ein. Wir beobachten seit fünf Jahren, dass Entwickler und Bauherren über die Nachnutzung von Parkhäusern nachdenken,die wir jetzt gerade planen und bauen. Momentan diskutiert man bei vielen größeren Projekten, ob eine Tiefgarage, die mit einer Investition von 40.000 bis 45.000 Euro pro Stellplatz viel teurer ist, durch ein oberirdisches Parkhaus ersetzt werden kann. Wir suchen jetzt schon eine flexible Nachnutzung der Parkhäuser, zum Beispiel als späteres Bürogebäude, Einkaufszentrum oder was auch immer. Da ist die Tiefgarage viel komplizierter umzunutzen: Was machen Sie mit diesen unterirdischen Räumen, wenn in den Städten nicht mehr geparkt wird?

MCA: Der gesellschaftliche Wandel liegt in der Demotorisierung.



„Städte sind im Kampf gegen den Klimawandel erfolgreicher als die nationale Politik“





Die Stadt dem Fahrrad!

HM: Wie ist Ihr Eindruck von Frankfurt als Fahrradstadt, Herr Colville?

MCA: Na ja, wir haben einmal eine weltweite Liste fahrradfreundlicher Städte erstellt und 130 Städte untersucht und bewertet. Drei der 20 besten Städte waren in Deutschland: Berlin, Hamburg und München. Frankfurt lag irgendwo um Platz 60. Es gab damals kein ausgebautes Netz an Radwegen. Deutschland hat die breitesten Straßen in Europa, hat also den nötigen Platz – und das ist öffentlicher Raum. Ich kenne viele Städte, denen fehlt es grundlegend am Platz für Fahrräder. Seit über 70 Jahren herrscht eine Verkehrsdiktatur – wir müssen diesen Raum wieder zurückerobern. In den 1920er Jahren waren die Bürgersteige in New York die breitesten der Welt. Dann kamen die Autos und die Bürgersteige verschwanden oder wurden kleiner. Die Re-Demokratisierung der Straßen ist das Einzige, was man tun muss. Zum Beispiel mit eigenen Fahrradstraßen wie der „Fietstraat“. Das Konzept stammt aus den Niederlanden. Autofahrer müssen sich unterordnen, dürfen nicht überholen, nicht hupen. Radfahrer bestimmen das Tempo. Jedoch habe ich hier in Frankfurt auch entlang einer vielbefahrenen Straße nur die rote Fahrradspur gesehen, ohne die nötigen Sicherheitsbarrieren zum Autoverkehr.

MH: Frankfurt hat vor kurzem damit begonnen, die Fahrradspuren auf den Straßen rot zu markieren und baulich abzutrennen. Das funktioniert gut. Für Autofahrer ist es ein gut sichtbares Element und Signal. Wie hier in der Goethestraße,
die dem Fahrradfahrer Vorrang einräumt.

HM: Warum hat man hier die Autos nicht ganz von der Straße verbannt?

MH: Vielleicht wegen der exklusiven Läden?

MCA: Radfahrer geben mehr Geld aus als Autofahrer. Eine Studie belegt, dass der Umsatz entlang gut ausgebauter Fahrradrouten um 30 bis 50 Prozent steigt. Radfahrer fahren die Strecken meist täglich und kaufen kleinere Mengen ein. Autofahrer fahren einmal die Woche zum Einkaufen. So geben Radfahrer im Laufe der Woche mehr aus. Auf der Sixth Avenue in New York wurde ein Radweg angelegt und die Straße von zwei Spuren auf eine verengt. Anfangs befürchteten die Händler, dass sie Kunden verlieren würden. Tatsächlich machten sie 48 Prozent mehr Umsatz.

MH: Der Laden muss aber leicht zu erreichen sein. In Frankfurt führen wir gerade eine Diskussion, zentrale Fahrradabstellplätze zu schaffen. Das widerspricht aber der Logik, mit dem Fahrrad immer direkt vor das Geschäft fahren zu können.

 

Dem Klimawandel begegnen     Frankfurt hat eine neue Stadtregierung. In Zeiten des Klimawandels muss es eine gemeinsame Anstrengung von Politik, Verwaltung und Bürgern geben, um diesen zu ändern. Der neue Koalitionsvertrag für Frankfurt liest sich hier eher wie eine Absichtserklärung als wie ein Maßnahmenkatalog.

MH: Ja, es gab und gibt sehr gute Ideen und Pläne, die wir im operativen Geschäft auf Ämterebene entwickelt haben, die aber bisher nicht umgesetzt wurden. Es gibt viele Dinge, die wir im Koalitionspapier wiederfinden. Ich bin sehr gespannt, wie sich die Politik in Frankfurt in den nächsten fünf Jahren gestalten wird.

MCA: Frankfurt erinnert mich an Rotterdam. Ebenfalls im Krieg zerstört und nach amerikanischem Vorbild wiederaufgebaut.

MH: Es gibt viele Parallelen zwischen den beiden Städten. Wir führen einen Austausch mit den Politikern und Planern dort. Spannend, weil die Herangehensweisen kulturell sehr unterschiedlich sind. Unsere Art zu diskutieren und Lösungen zu finden dauert länger. Da sollten wir von unseren Nachbarn lernen – national und international. Wir schauen oft nach Hamburg, wenn es um Stadtentwicklung und Wohnungsbau geht. Aber die große Herausforderung wird künftig im Umbau der Stadt und deren Quartieren liegen.

MCA: Im Vergleich zu anderen deutschen Städten ist Frankfurt nicht sehr grün. Das würde es aber brauchen, um den Hitzeinseln entgegenzuwirken, insbesondere bei den hohen Gebäuden. Nehmen Sie den Bosco Verticale in Mailand, wo das gesamte Gebäude begrünt ist. Neben dem Hype ist er auch eine Lösung für Artenvielfalt und die Kühlung der Stadt. Außerdem sieht es gut aus. Es muss mehr Grün in die Stadt, an Fassaden, auf Balkone, auf Plätze. Kennen Sie das Klima-Quartier in Kopenhagen?

MH: Die Schwamm-Parks? Ja, wir haben auch in Frankfurt massive Probleme mit Starkregen und Überflutungen und konnten uns in Kopenhagen mit Kollegen vor Ort austauschen.

MCA: Die Idee der Sponge-City ist eine Antwort auf die zunehmenden Überschwemmungen und sintflutartigen Regenfälle. Sponge-Parcs wie der Tåsinge Plads in Kopenhagen sind riesige Regenrückhaltebecken, die bei Starkregen volllaufen und so verhindern, dass Quartiere überflutet werden. Außerdem schaffen die Parks ein gutes Stadtklima und sind im Sommer beliebte Treffpunkte.

MH: Für die Zukunft der Innenstädte sind ja nicht nur Lösungen der Verkehrsfrage und der Auswirkungen des Klimawandels entscheidend. Auch beim Bauen und vor allem beim Umbau im Bestand gibt es enormes Potenzial. Da liegt der Fokus auf dem Wirkungsgrad der Gebäude.

HM: Wir investieren bei Neubauten 10 bis 15 Prozent des eingesetzten Kapitals, um ein oder zwei Prozent Energie zu sparen. Das Verhältnis von Kosten und Wirkung geht gegen null. Und da ist ein Punkt erreicht, wo wir nicht mehr tun können. Wir sprechen viel über den Klimawandel. Wenn wir aber unser Verhalten in Bezug auf die Nutzung von Autos und das Fliegen nicht ändern, dann ändert sich nichts grundlegend.

MCA: Ich glaube, dass die Städte im Kampf gegen den Klimawandel erfolgreicher sind als die nationale Politik. Das Potenzial für die Umgestaltung liegt in den Städten, sie haben es in der Hand, den Autoverkehr von 50 auf 25 Prozent zu reduzieren, den Anteil des Radverkehrs zu verdoppeln und den öffentlichen Verkehr auszubauen. Dort wird die Schlacht gewonnen. Der Bau und der Betrieb von Gebäuden verursacht eine Menge CO2 und auch der Straßenverkehr nimmt ständig zu. Das sind die Stellschrauben, an denen wir drehen müssen.


„Lasst Bürger selbst Ideen entwickeln“


Verkehr in Frankfurt     400.000 bis 500.000 Menschen pendeln täglich aus dem Umland nach Frankfurt. Wie viel Prozent kommen mit dem Auto, mit öffentlichen Verkehrsmitteln, mit dem Fahrrad?

MH: Die Quoten liegen recht stabil bei 22 % für öffentliche Verkehrsmittel, um die 20 % jeweils Rad- und Fußgängerverkehr. Seit Corona verschiebt sich der Anteil am ÖPNV zugunsten des Rades.

HM: Gerade haben wir ein großes Projekt in Eschborn vorgestellt, einen autofreien Gebäudekomplex mit ungefähr 60.000 Quadratmetern. Es gibt eine Mobilitätszentrale, wo man seine E-Bikes aufladen, sich umziehen und duschen kann. Ich habe eine wilde Diskussion erwartet, aber dann hat der Bürgermeister nur gefragt: „Wie haben Sie die Fahrradanbindung nach Frankfurt geplant?" Aber die Verkehrszusammenhänge können wir nicht lösen. Wir können die Probleme innerhalb unseres Projekts lösen, nicht aber die Verbindung von Zentren. Diese übergeordneten Konzepte müssten dringend vorangetrieben werden.

MH: Regional planen wir gerade einen etwa 35 Kilometer langen Fahrradschnellweg von Darmstadt nach Frankfurt. Acht weitere regionale Routen sind in Vorbereitung. Wir denken dabei über getrennte Fahrradstraßen nach, die Frage ist nur, wo wir die Trassen für Radfahrer in die Stadt hineinführen.

MCA: Im Großraum Kopenhagen fahren heute 400.000 Menschen Rad, aber nur 0,2 % fahren 30 Kilometer oder mehr. Wir messen das ganze Jahr über den Fahrradverkehr in Kopenhagen. Von außerhalb kommen die Menschen zu 46 % mit dem Fahrrad, 30 % mit öffentlichen Verkehrsmitteln und der Rest mit dem Auto. Aber wenn man direkt in Kopenhagen wohnt und arbeitet, dann sind es 62 % Fahrräder und nur 12 % Autos. In der Stadt haben wir nur rund 30 % Autobesitz. Alle Autos kommen von außerhalb. Es ist einfach, mit dem Rad in der Stadt zu fahren, es ist der schnellste Weg von A nach B. Nicht weil es umweltfreundlich ist, sondern weil es schnell, sicher und bequem ist. Dafür muss das Fahren mit dem Rad von der Stadt bevorzugt werden – dann fahren die Leute auch Fahrrad.

 

Die Stadt der Zukunft     Was sind also die Perspektiven für Frankfurt? Was können und müssen wir von anderen Städten lernen? Und wie lange wird es dauern? Ist 2050 die magische Zahl? Wie können wir Bürgerinnen und Bürger dazu bringen, ihre Wünsche für die Stadt zu formulieren? Müssen wir etwas anbieten und dann schauen, wie es funktioniert? Oder sollten wir die Bewohner dazu ermutigen, sich mehr in die Debatte einzumischen und ihre Interessen durchzusetzen?

MH: Ich meine, man muss in beide Richtungen denken. Zuerst muss man entscheiden, wie man den öffentlichen Raum nutzen und wie man den öffentlichen Verkehr in der Stadt organisieren will. Danach kann man mit der Öffentlichkeit darüber diskutieren, wie das im Detail aussieht und funktioniert. Ich befürchte allerdings, dass wir da in eine nie endende Diskussion kommen, wenn man alle an allem beteiligt. Das wird nicht gehen, wenn wir eine schnelle Wende schaffen wollen. Man muss jetzt schnell entscheiden, umzudenken. Das ist eine große nationale Aufgabe, nicht nur eine regionale. Man muss für all diese Themen, Klimawandel, Veränderung des öffentlichen Verkehrs, – nicht nur für Frankfurt – neue Lösungen finden.

MCA: Ich werde jetzt zwei Wörter einwerfen, die im englischen Urbanismus zurzeit sehr hip sind: Enabling und Curating. Ich bin davon überzeugt, Martin und alle anderen Martins dieser Welt wissen genau, was zu tun ist. Sie stecken nur in dem Dilemma, dass die Politik die Langsamkeit des Wandels diktiert. Wir müssen also nicht nur die Planungsteams und Städte auf der ganzen Welt „enablen“, sondern auch die Politiker drängen, ihnen mehr Freiheit zu geben. Wir müssen die Bürger wieder aktivieren und sie zum ersten Mal nach 70 Jahren verkehrsgerechter Planung fragen: Was wollt ihr? Sie wissen es intuitiv. Also müssen wir sie „befähigen“ und sie mit der entsprechenden Macht ausstatten. Das Kopenhagen von heute ist zu einem großen Teil das Ergebnis eines Pilotprojekts, einer Pilotprojektkultur. Wir probieren sechs Monate lang einfach mal etwas aus und sehen, ob es funktioniert. Das können nicht viele Städte tun, aber wir haben über die Jahre hinweg Dinge getestet und jetzt wissen wir, wie was funktioniert. Wir befähigen – enablen – also die Planer und die Bürger. Kuratieren ist der neuste coole Begriff der urbanen Gesellschaft. Gebt den Bürgern der Stadt die Möglichkeit, den öffentlichen Raum, ihr Umfeld, selbst zu gestalten, wie in einer Ausstellung oder einer Kunstgalerie. Wir müssen die Bürger einbinden, sie haben bessere Ideen als 500 meiner Berufskollegen in der Stadtplanung. In Deutschland gibt es dafür eine solide demokratische Kultur und eine diskursive Gesellschaft. Die Kinder, die Bürger sind die Zukunft der Stadtplanung: Auf ihre Wünsche sollten und müssen wir hören.

HM: Und das stimmt mich positiv. Es kann alles viel schneller gehen. Denn die Politiker werden von den Bürgern und vom Klimawandel getrieben und müssen reagieren. Die Menschen kaufen keine Autos mehr und fahren mit dem Rad oder dem ÖPNV, sie wünschen sich mehr Nachhaltigkeit. Die kommende Generation wird automatisch andere Prioritäten in der Stadtplanung verlangen. Deshalb bin ich mir sicher, dass wir in zehn Jahren hier auf einer ganz anderen Ebene diskutieren werden. Wir alle haben Ideen und wir können mit kleinen Lösungen Schritt für Schritt bessere und kreativere Lösungen und Planungsergebnisse erzielen. Ich bin mir sicher, dass die Städte in Deutschland schon 2030 ganz anders aussehen werden als heute.

Wir werden in StockWerk vol. 10 nachfragen, wie es sich entwickelt hat. Herzlichen Dank für diese Einblicke.