MAN MUSS VERWIRRT DENKEN

Meike Weber im Gespräch mit:
Martin Rein-Cano, Gründer Topotek 1
Holger Meyer

Fotos: Robertino Nikolic


StockWerk beschäftigt sich in dieser Ausgabe mit den Themen Stadt und Land. Geht es um Gegensätze und Grenzen oder um Hybridität? Was können gebaute Kulturlandschaften von gewachsenen lernen?

Martin Rein-Cano (MRC): Es ist eine grundsätzliche Frage, in welcher Art Flow man sich bewegen möchte. Es gibt Menschen, die mögen klar abgepackte Bereiche. Man packt das Leben in kleine Kistchen und geht von einem ins nächste, ohne dass sie sich berühren. Das hat Vorteile, aber den Nachteil, dass Verknüpfungen vereitelt werden. Meine Sehnsucht ist die nach einem Flow, nicht nach Trennungen. Wenn ich arbeite, will ich sinnliches Erleben. Wenn ich in meiner Freizeit bin, will ich geistiges Erleben. Erlebnisse zu trennen, halte ich für 20. Jahrhundert. Die Trennungen der Moderne sind heute noch präsent. Man kann das dialektisch sehen und behaupten, Trennung sei notwendig, damit uns das Einerlei nicht verschluckt. Hat es das nicht längst? Ich glaube an Mischung und Hybridität und dass es nicht erlaubt sein sollte, unsinnliche Orte zu erschaffen. Orte, die einer einzigen Nutzung geschuldet sind. Trennung ist nur Fantasie. Alles Gewachsene geht mit dem Zu-tun des Menschen einher. Das Unberührte, die von selbst entstandene Landschaft, gibt es nicht mehr. Trotzdem empfinden wir eine Faszination für etwas, das Zeit hatte zu reifen. Natürlich liegt in jedem Anfang ein Zauber, aber das Neue gibt es bei einem Gebäude, bei der Landschaft ist interessanter, wie sie wächst. Wir sollten bei Architektur die Sehnsucht nach Gewachsenheit stärken. Es ist die Zeit, wo Architektur von Landschaft lernen kann.

Holger Meyer (HM): Es geht um Hybridität und um gesellschaftlichen Wandel. Die Menschen sind in der industriellen Revolution in die Stadt gezogen, weil es dort Arbeit gab. In der Zeit ist der Massenwohnungsbau entstanden, in höchster Verdichtung. Sie kamen aus landschaftlichen Gebieten und haben steinerne Meere vorgefunden. Diese steinernen Meere sind heute die Quartiere, die als besonders urban und lebenswert gelten.

MRC: Damals wurde das nicht als Qualität wahrgenommen. Zum einen wohnten fünfmal so viele Menschen in den Wohnungen. Zum anderen hatten die Gründerzeitstraßen, die wir heute als Baumstraßen erleben, nahezu kein Grün. Und das Wesentliche: Sie hatten die Chance, zu werden. Heute wollen wir diese Prozesse verkürzen. Wir wollen Reifung vorwegnehmen.

HM: Wir wollen das urbane Ergebnis am Anfang haben. Urbanität gibt es nicht vom Papier weg. Wir können sie aber vorprogrammieren.

MRC: Da spielt Hybridität eine große Rolle. Wir müssen viel stärker Unfälle ins Programm schreiben. Das ist kein Appell an uns Architekten, sondern ein Appell an die Programmierer der Architektur. Unsere Programme müssen gemischter und hybrider sein. Je komplexer ein Gebäude, je komplexer seine Eigentümerstrukturen, umso mehr ist sein Erhalt vorprogrammiert. Programmierung beginnt beim Eigentum. Städte könnten Grundstücksvergaben über deren Größe steuern. Die Gründerzeitstadt hatte eine kleinteilige Struktur. Aus Kleinteiligkeit entsteht Hybridität, die zugleich nachhaltiger und dem gesellschaftlichen Wandel angemessener ist. Hybridität, weil sie Sinnlichkeit vorprogrammiert, weil sie Unerwartetes zulässt. Kontrollierte, monofunktionale Räume unterbinden Unerwartetes. Hybridität ist das, was Urbanität ausmacht. Sie ist das Unvorhergesehene und ein wesentlicher Teil für unser menschliches Dasein.

HM: Lebensmodelle ändern sich und erst bei maximalem Druck passiert in unserer Branche etwas.

MRC: Umso wichtiger ist es, Sinnlichkeit in unserer Branche zu thematisieren. Qualität hat immer mit sinnlichem Erleben zu tun und sollte ein Grundrecht sein. Was bedeutet sie für unsere Gebäude? Was bedeutet sie für Quartier und Stadt? Was bedeutet sie für öffentliche Räume? Diese Qualität wird zu wenig diskutiert, aber sie ist die eigentliche Lebensqualität.

Ihr habt vom Wandel gesprochen. In diesem Sinne haben Digitalisierung, Nachverdichtung und zuletzt die Pandemie dem öffentlichen Raum mehr Bedeutung verschafft. Neue Herausforderungen wie Klimaneutralität und -anpassung stellen Anforderungen an die Politik und jeden Einzelnen, fordern Ökologie statt Ökonomie. Geht es mehr um ökologische oder um soziale Relevanz?

MRC: Wir sollten das nicht auf die Freiräume reduzieren. Die Frage stellt sich in unserem gesamten Leben – durch unseren Konsum und durch die Architektur. Stammt die Trennung von Natur und Mensch nicht bereits aus der Vertreibung aus dem Paradies? Dass wir vermeintlich nicht Natur sind, hat dazu geführt, dass wir über lange Strecken Natur zerstört haben. Im selben Duktus haben wir heute den Eindruck, wir müssten Natur beschützen. Diese Denkmuster brauchen ei-nen Paradigmenwechsel, dahin, dass es keinen Unterschied zwischen uns und der Natur gibt. Alles, was wir tun, ist Natur. Wenn wir die Natur schützen, schützen wir uns und unsere Ressourcen, die wir zum Überleben brauchen. Das ist zunächst eine ökonomische Fragestellung. Doch wir müssen sie ganzheitlich beantworten. Wie erlebe ich Nachhaltigkeit? Wenn ein Raum ein gutes Klima hat, dann lebt ein Gebäude auch länger. Dasselbe gilt für den Freiraum. Die soziale Frage lässt sich von der Nachhaltigkeitsfrage nicht trennen. Ich habe den Fokus meiner Arbeit auf das Soziale gelegt, nicht als Antiposition zum Nachhaltigen, sondern als Teil davon.

HM: In dem Umfeld, in dem wir uns bewegen, findet nur die Ökologie- und Nachhaltigkeitsdiskussion statt. Wir müssen etwas tun und wir tun bereits vieles – wenn auch in begrenzter nationaler Sicht auf ein globales Problem. Die soziale Komponente wird nicht ernsthaft thematisiert.

MRC: Darin liegt das Scheitern begründet. Was haben wir davon, wenn wir heute ein nachhaltiges Gebäude bauen, das in 30 Jahren nicht mehr zeitgemäß ist und ersetzt wird? Das ist die soziale Diskussion: Wie schaffen wir Häuser, die eine soziale Akzeptanz und Zuneigung bekommen und bei denen es sogar obszön ist, sie wegzuwerfen?

HM: Das gilt für die gebaute Stadt wie für den Freiraum. Es geht bei beiden um soziale Nutzung und Nachhaltigkeit im Sinne von Dauerhaftigkeit.

MRC: Wir stecken in einer Art dauerhafter Korrekturschleife, in einem Neubau- und Renovierungswahn, der dazu führt, dass wir heute zwar nachhaltiger bauen, aber nach 30 Jahren alles neu werden muss. Das ist gut für unseren Berufsstand. Als Unternehmer freuen wir uns über Aufträge. Für die Nachhaltigkeit ist es ein Riesenproblem, dass Orte nicht die Chance bekommen, zu wachsen. Kann Kapitalismus nicht Wachstum auf eine andere Art schaffen als durch ständige Zerstörung von Orten in ständigem Konsum? Konsumismus findet in der Architektur genauso statt, nur die soziale Diskussion ist inexistent.





Glaubt ihr nicht, dass sie durch den Wandel stärker in Schwung kommt? Der öffentliche Raum ist immer schon Raum des Volkes. Findet ihr nicht, dass er im Sinne von Freiraum durch die Pandemie stärker in die Diskussion gerückt ist? Ist nicht die Zeit der „Betreten verboten“-Schilder vorbei und geht es nicht künftig um Nutzbarkeit und Community-Funktion? Um freie Deutung und Aneignung statt Determiniertheit? Kann nicht daraus der Diskurs auf die Architektur übergehen?

HM: Das Bewusstsein und die Kampfbereitschaft für den öffentlichen Raum sind stärker geworden. Ich bin auf der einen Seite ein klarer Verfechter der verdichteten Stadt. Auf der anderen Seite müssen wir um den öffentlichen Raum kämpfen. Und gleichzeitig darf es nicht zum Privileg werden, in der Stadt zu wohnen. Wenn ich die Stadt nicht an den Rändern komplett zersiedeln will, muss ich dafür plädieren, dass sie dichter wird. Daher ist ein Wohnhochhaus kein Tabu. Es ist auch kein Tabu, in Stadtvierteln darüber nachzudenken, dass aus viergeschossigen Bebauungen perspektivisch siebengeschossige werden.

MRC: Dichte wie die der Gründerzeitstadt ist gut. Das schafft kürzere Wege. Ob die Typologie Hochhaus nachhaltig ist, ist eine andere Diskussion. Aber Dichte ist wesentlich für Begegnung und soziale Interaktion zwischen unterschiedlichen Akteuren.

 

 

HM: In Berlin habt ihr Dichte schon früh geprobt.

MRC: Das stört auch keinen, denn im Gegenzug war Berlin immer die Stadt der großen öffentlichen Räume. Die bekommen eine andere Qualität, wenn man nicht überall nur Rest- und Zwischenflächen hat. Verstärkt durch die Pandemie lebt der öffentliche Raum uns etwas vor, was ich mir auch für Gebäude wünsche. Der Wunsch nach Selbstaneignung und Selbstbestimmung. Ein Wunsch, den der Freiraum zum Teil erfüllt hat, weil er Allgemeingut ist. Mir ist klar, dass es im kapitalistischen Rahmen stattfinden muss. Ich bin kein Fantast oder Sozialromantiker. Aber es geht um eine andere Art von Geschäftsmodellen im Sinne einer neuen, sozialkonstruktiven Ethik. Das bedeutet die Klarheit der Nomination von Raum in Frage zu stellen. Es gibt die Reinheit der Typologien nicht mehr. Die Moderne wollte trennen. Das hatte Gründe, für die Städte war es ein Desaster. Wir müssen künftig dichter und gemischter bauen. Wir müssen mit schärferen Gesetzen agieren, insbesondere was Eigentum angeht. Die Vorgaben müssen von der Politik kommen und die Gesellschaft muss sie umsetzen.

HM: Ich beobachte seit langem kritisch, wie untätig Staat und Politik sind und wie sehr sie das auf Entwickler und Bauherren zurückschieben. In den 1950er und 1960er Jahren ist das ganze Land aufgebaut und so viel Wohnraum geschaffen worden. Die Gesellschaften sind noch da. Es wäre einfach, über Grundeigentum einen politischen Auftrag zu definieren. Es wäre einfach zu sagen, wir legen die Programme nochmal auf und fördern ganz bewusst die soziale und grüne Stadt. Stattdessen sind die Wohnungsbaugesellschaften privatisiert oder abgewickelt in Gesellschaften, die heute selbst profitorientiert sind.

MRC: Gut wären ordentliche Baugesetze, wo das Land sagt, schau mal, der Boden, der ist wie die Luft, der gehört allen. Eigentum wird an Bedingungen geknüpft. Wenn ich mitten in der Stadt ein Wohnhochhaus für eine bestimmte Klientel bauen möchte, muss ich zugleich Angebote für die Gemeinschaft schaffen. Diese Angebote macht niemand freiwil-lig. Das sind Vorgaben, die wir über einen sozialpolitischen Diskurs als neue Standards setzen können, die aber letztendlich von der Politik kommen müssen.

HM: An dem Punkt war Corona im positiven Sinne ein Turbobooster. Die Probleme, die in einer gewissen Langsamkeit da waren, wurden plötzlich zu einem kumulierten Problem. Dass unser Wohnraum zu klein ist, um zu Hause zu arbeiten. Dass der öffentliche Raum, der eine Entlastung für den sozialen Frieden gewährleisten soll, zu wenig Aufenthaltsqualität bietet. Plötzlich müssen Unternehmen, plötzlich müssen Städte, plötzlich müssen Wohnungsentwickler reagieren.

MRC: Es geht nicht darum, jetzt größere Wohnungen zu haben, um noch mehr zu versiegeln, und die sich keiner mehr leisten kann, sondern um mehr Angebote an die Gemeinschaft.

HM: Tatsächlich entsteht daraus Druck auf die Außenbereiche der Städte. Es gibt Leute, die brauchen größere Wohnungen, können sie sich in der Stadt aber nicht leisten und gehen wieder an den Stadtrand. Da findet ein unglaublicher Umbruch statt.

 

 

MRC: Das größte Pfund hat trotzdem die Politik. Wir können als Architekten diese Sachen diskutieren und mit unserem Know-how Anregungen geben. Aber die Frage ist, wie man Gesetze und Interessengruppen ehrlicher miteinander in Einklang bringen kann. Es ist nicht einfach, aber die Politik muss das beantworten. Kommen wir zu spezifischen Fragen zu Topotek 1. Ihr seid seit Jahren international bekannt und könnt auf eine Riesenrange an Projekten zurückblicken – kleine Maßstäbe, große –, unterschiedlichste Aufgaben.

Was unterscheidet die Projekte, was eint sie? Gibt es Lieblingsaufgaben oder eine Aufgabe, die ihr immer schon einmal machen wolltet?

MRC: Ich würde gerne einen Friedhof machen. Ich mag Abenteuer und ich bin ein sehr soziales Wesen, deswegen können Holger und ich so gut miteinander arbeiten. Ich mag die soziale Auseinandersetzung mit denen, die sie führen können und wollen. Das motiviert mich. Ich habe Spaß an Zusammenarbeit – intern wie extern. Das Neue interessiert mich. Aufgaben nie als ein herausgelöstes Thema der Landschaftsarchitektur oder der Architektur zu sehen, sondern als soziale Aufgabe, als Nachhaltigkeitsaufgabe. Eine Aufgabe für die Gesellschaft, auch im Sinne von Zusammenarbeit. Zusammenarbeit bedeutet immer eine temporäre Gemeinschaft zu bilden. Je besser diese Gemeinschaft, je mehr Vertrauen man aufbaut, je offener man agieren kann, desto besser sind die Projekte.

Das führt mich zur Frage eurer Herangehensweise, die sich im Spannungsfeld zwischen der Lesbarkeit eines Ortes und der Bedeutung des Narrativen bewegt. Ihr entwickelt einerseits aus dem Kontext, um Orten eine neue Identität zu verschaffen. Gleichzeitig weisen eure Projekte eine Art Eklektizismus auf, heute würde man von Sampling oder Remix sprechen, wiederkehrende Elemente aus anderen Kontexten, die eine eigene Sprache sprechen.

Und ihr generiert wie Filmemacher – Kristin Feireiss hat euch als Geschichtenerzähler betitelt – Wunschbilder. Wie ist das vereinbar?

MRC: Für mich gibt es keine Trennung. Wir alle denken dreidimensional. Denken ist dreidimensional. Man muss verwirrt denken, damit Neues entsteht. Jedes Projekt hat immer ein handwerkliches Momentum, die Physik eines Ortes, die wir Kontext nennen. Ich kann das faktisch nicht ignorieren und trotzdem bin ich überzeugt, dass man Orten Leben einhauchen muss. Dieses Einhauchen liegt für mich im Narrativ. Es ist sehr bildmächtig vor dem Hintergrund, dass ich etwas sehen will. Ich will, dass meine Geschichten erlebt werden. Das bildmächtige Narrativ ermöglicht die Überwindung des Wachsens und die Verkürzung der Zeit. Bäume brauchen oft dreißig Jahre, bis sie so bildmächtig sind. In der Zwischenzeit brauche ich andere Ausdrucksformen. Das Narrativ ist vom Sinnlichen nicht zu trennen. In der Aufhebung dieser Trennung läge eine Chance für den Architekturdiskurs, der sich so sehr einer Optimierung von Prozessen verpflichtet hat. Zweifelsfrei lässt sich dies im Freiraum leichter bewerkstelligen, weil die wirtschaftlichen Interessen weniger im Vordergrund stehen. Hier entstehen viel mehr Freiräume, die wir versuchen zu nutzen.

 

 

Du hast vom Denken in drei Dimensionen gesprochen. Geht es nicht beim Freiraum auch um die vierte Dimension – die Zeit? Zeit in ihren unterschiedlichen Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? In der Gegenwart sprecht ihr von Bewegung, Wahrnehmungsgeschwindigkeiten und Zeitgenossenschaft. Wenn wir an Zukunft denken, haben wir es bei Natur mit viel mehr Dynamik, Wachstum und Veränderung zu tun. Der Faktor Zeit und die Planbarkeit des Unkontrollierbaren stehen für Architekten und Bauherren häufig im Widerspruch. Wie gelingt euch diese Integration?

MRC: Das ist ganz wesentlich und es gibt keinen Unterschied zwischen Architektur und Landschaftsarchitektur. Auch Häuser wachsen, auch Häuser patinieren, auch Häuser erleben Veränderungen. Sie haben nur eine andere Zyklizität. Zeit hat mit Sinnlichkeit zu tun. Wir sind sinnliche Wesen, weil wir ein Stück weit immer im Sterben sind. Die Romantik stand für die Versinnbildlichung des Vergehens als ästhetische Qualität. Dinge vergehen und es ist nicht gesund, sich eine vergehensfreie Welt vorzugaukeln. Nach Zeiten des oberflächlichen Konsums suchen wir heute eine tiefer gehende Empfindsamkeit, ein echtes Erleben. Zeit entsteht durch Bewegung in der Landschaft. In einem Park kann ich mich relativ frei bewegen. Die Frage, wie ich Raum in Bewegung erlebe, wird dagegen oft in Häusern nicht beantwortet oder gar nicht gestellt. Sollte nicht Bewegung im Raum viel stärker die Gebäude bestimmen? Eine Qualität, die es in Einzelbeispielen gibt, die aber zu wenig beachtet wird.
 


 

HM: Es gab diese Qualität, doch wurde sie reduziert auf zwingende Funktionserfüllung. Das gilt für Erschließungen wie für Fassaden. Wo ist die Dekoration im Sinne eines Identitäts- und Wiedererkennungsfaktors geblieben? Wir machen viele Dinge, die gut sind und funktionieren. Aber die Handwerkskunst ist verloren gegangen. Wir können heute gewisse Dinge durch neue Technologien ersetzen, aber das Bewusstsein ist verloren gegangen und das hat viel mit Identifikation mit einem Ort und sozialer Akzeptanz von Architektur zu tun. Das Individuelle, das Sinnliche, das haptische Erlebnis sind reduziert worden auf Wirtschaftlichkeitsaspekte. Das funktioniert in der Freiraumgestaltung vermutlich ähnlich.

MRC: Ähnlich, allerdings entsteht der Druck funktionaler Rechenschaft nicht so stark wie in der Architektur.

HM: Ihr könnt mit einem Bruchteil des Budgets viel mehr bewegen und große Qualität erreichen.

MRC: Es gibt hervorragende Beispiele aus der Architektur zum Thema Qualität über Handwerklichkeit und Qualität über Raumbildung. Die Philharmonie von Scharoun in Berlin ist ein gutes Beispiel. Einfach gebaut mit geringem Budget gehört sie zu den Raumwundern der Architektur. Es geht einfach darum, gute Räume zu gestalten.

Kommen wir auf das Thema Materialität zurück. Wenn wir an Landschaftsarchitektur denken, denken wir romantisierend an Grün, an Natürlichkeit, an Bauen mit der Natur. Bei euren Projekten treffen häufig natürliche auf künstliche Materialien in Kombination mit einer starken Farbigkeit und Grafik. Welche Bedeutung haben diese für eure Arbeit?

MRC: Landschaftsarchitektur hat eine lange grafische Tradition. Denken wir an die Platzgestaltung des Kapitols in Rom, Mosaike oder Malereien in Südengland (Dorset Giant). Das Zeichnen auf dem Boden war immer da. Denken wir an einen weiteren Aspekt: Bei der englischen Landschaftskunst spricht man vom Pittoresken. Das Bild der Landschaft gab es vor der Landschaft selbst. Es waren Malereien von Nicolas Poussin und Claude Lorrain, die zu den englischen Landschaftsgärten geführt haben. Der Zusammenhang zwischen Landschaftsarchitektur, Grafik, Malerei und Kunst ist nichts Neues. Auch wir haben über das 20. Jahrhundert eine Art Funktionalisierung erlebt. Die Landschaftsarchitektur konnte sich aus einem reinen Bildangebot nicht mehr rechtfertigen. Sie musste zu einer Notwendigkeit werden. Wir brauchen Freiräume, aber ein Dach über dem Kopf ist notwendiger als ein Park. In diesem Funktionalisierungsprozess ist die künstlerische Tradition verloren gegangen, die die eigentliche Ursuppe der Landschaftsarchitektur ausmacht.

HM: Was ich an eurer Arbeit besonders mag, sind der Überraschungseffekt und das Gegensätzliche. Es gibt nicht die eine Lösung. Mal ist es grün, mal farbig, dann arbeitet ihr wieder mit ganz starker Symbolik.
 

 

MRC: Ich bin ein Kind der 80er Jahre und damit der Postmoderne. Ich mag das Eklektische, aber am meisten Spaß macht mir, wenn ich Neues probieren kann.

HM: Das verbindet uns beide. Wir haben nie eine gleiche Antwort auf eine ähnliche Fragestellung. Wir haben unterschiedliche Orte und unterschiedliche Auftraggeber. Unsere Architekturen, unsere Landschaften und Freiräume antworten darauf.
 
MRC: Es ist die Nonchalance, mit Orten umzugehen – auch im Sinne des Zeitgeistes. Kommen wir zum Thema Zusammenarbeit. Ihr habt mit großen Namen, mit kleinen Büros und häufig mit Künstlern gearbeitet. Was ist wichtig bei interdisziplinärer Zusammenarbeit? Geht es um das Fachliche oder das Menschliche wie eine ähnliche Haltung, ein ähnliches Verständnis von Humor,
Ironie, Provokation und die Freude an Experimenten, die aus euren Arbeiten spricht?

MRC: Es ist das Menschliche. Auch wenn Holger und wir aus unterschiedlichen Welten kamen, war der Umgang von Anfang an offen. Wir sind beide unideologisch auf eine ideologische Art. Unsere Zusammenarbeit wird bestimmt von Offenheit und dem Zulassen von Entwicklungen.

HM: Die große Qualität bei Martin ist, dass er unbequem ist, Dinge immer wieder kritisch hinterfragt. Diesen Diskurs suche ich auch im Büro und er entsteht im Idealfall auch mit Bauherren. Die besten Bauherren sind die, die offen sind, die erklären, warum
sie etwas wollen und nicht wollen. Je produktiver und offener der Prozess, desto schneller kommt man zur Qualität.

MRC: Es geht um Flexibilität im Denken und Wandlungsfähigkeit. Es geht um offene Zusammenarbeit, die manchmal auch ein bisschen wehtun kann.

Das Arbeiten in Netzwerken ist Thema der Zukunft. Leider hat das kaum Eingang in Lehre und Praxis gefunden.

MRC: Ich erlebe das fast nur in Skandinavien anders. Die Skandinavier sind sehr kommunikationswillig. Auch die großen Namen entwickeln ihre Projekte in der Kommunikation weiter. Das war auch bei mir ein Lernprozess. Heute muss ich sagen, ich bin am besten mit guten Partnern. Unsere besten Projekte sind die, die wir in Zusammenarbeit gemacht haben.
 

 

HM: Kommunikation, Offenheit und interdisziplinäre Zusammenarbeit sind eine Generationsfrage. Das andere Modell ist überholt, es passt nicht mehr in diese Welt, nicht mehr zu den Aufgaben und nicht mehr zum Tempo. Heute muss man Entwicklungen auf eine andere Art diskutieren. Man muss viel mehr Leuten zuhören. Wir haben über fachliche und menschliche Zusammenarbeit gesprochen. Wir haben über den öffentlichen Raum als Raum der Gesellschaft und seine soziale Relevanz im Sinne einer Wir-Kultur gesprochen. Welche Bedeutung spielt die Zusammenarbeit mit der Gesellschaft?

MRC: Wir müssen mehr zuhören. Aber wir müssen differenzieren zwischen unterschiedlichen Formen der Partizipation. Die Frage der Partizipation braucht an unterschiedlichen Orten und unterschiedlichen Aufgaben unterschiedliche Antworten. Denken zuzulassen bedeutet Fehler zuzulassen. Das erfordert eine Fehlerkultur, die wir lernen müssen.

HM: Es geht um ein Spannungsfeld zwischen mehr Demokratie und notwendiger Diktatur. Ein Planungsprozess kommt nie zum Abschluss, wenn nicht einer sagt, so machen wir es jetzt. Wir zerreden zu viele Dinge. Das Machen fehlt.

MRC: Das hat mit Diskurskultur zu tun. Wir diskutieren nicht die wesentlichen Themen. Wir müssen den Diskurs kontrollieren und qualifizieren. Wir sind so wenig positiv gegenüber der Zukunft und das Zerreden ist ein typisches Beispiel.

HM: Das eine ist das Zerreden, das andere ist die Verweigerungshaltung ge-genüber Verantwortung.

MRC: Die Verantwortungslosigkeit ist ein Symptom der ständigen Verfügbarkeit von allem, nicht die Ursache. Es geht um eine qualifiziertere Demokratisierung im Diskurs.

HM: Ergebnisorientiert muss sie sein. Das Schlimmste ist, kein Ergebnis zu haben. Mehr zuhören und machen als alles zerreden.

Das finde ich ein schönes gemeinsames Ergebnis. Ich danke euch sehr für diesen Diskurs.